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WIE SARS-COV-2 UNSERE GEOGRAPHIEN VERÄNDERT – DREI POSTMEDIZINISCHE PERSPEKTIVEN

20. Juni 2020

Die derzeitige Pandemie-Situation verändert gesellschaftliche Strukturen und beeinflusst, wie wir Räume wahrnehmen, uns in ihnen bewegen und in ihnen handeln. Die gesellschaftliche Raumwirksamkeit der Coronakrise zu analysieren ist Aufgabe der postmedizinischen geographischen Gesundheitsforschung. Im Folgenden werden mögliche Fragestellungen aus drei unterschiedlichen postmedizinischen Perspektiven vorgestellt.

1. DAS VIRUS ALS AKTANT
Unser Alltag ist nicht mehr alltäglich und in die Ausnahmesituation, aus der wir uns langsam wieder zurückkämpfen, wurden wir durch ein Virus gestoßen. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive kann SARS-CoV-2 als idealtypischer nicht-menschlicher Akteur bzw. Aktant gesehen werden. Dabei handelt das Virus natürlich nicht selbst, es verordnet uns kein Homeoffice, es verbietet nicht den Besuch im Zoo und es vertreibt auch nicht Millionen armer Tagelöhner unter menschenunwürdigen Bedingungen aus Indiens Metropolen. Es sind unsere Vorstellungen von dem Virus und ganz konkret Personen und Institutionen, die mit SARS-CoV-2 interagieren und Veränderungen hervorrufen. Durch die Akteursnetzwerke werden unsere täglichen Aktionsräume verändert: die in der realen Welt werden kleiner und enger, während unsere Präsenz im digitalen Raum zunimmt. Statt in Seminar- und Konferenzräumen treffen wir uns in Zoom-Räumen. SARS-CoV-2 verändert neben unseren täglichen Aktionsräumen auch unsere sozialen Praktiken – die Art und Weise, wie wir uns auf der Straße und im Supermarkt bewegen, wie wir mit anderen Menschen (im Raum) interagieren. Eine der ersten Praktiken, die dem Virus zum Opfer fiel, war das Händeschütteln. Freunde umarmen wir nicht mehr, weil wir sie nicht mehr sehen – und wenn dann nur beim Spaziergang mit einem Mindestabstand von 1,5 Metern. Die Frage für die Zukunft lautet: Wie wird das Virus unsere Aktionsräume und Praktiken verändern? Und welche Prozesse, die jetzt angestoßen werden, sind von Dauer?

2. PLACE-MAKING WÄHREND DER PANDEMIE
Als Gesellschaft verhandeln wir derzeit, welche Orte wir wieder zugänglich machen sollen. Orte – im Englischen places – sind mehr als der physische Ort, sie sind die Orte, wie sie in unseren Vorstellungen existieren, geprägt durch die Ereignisse, die wir dort erlebt haben, und die Emotionen, die wir mit ihnen verbinden. San Siro, das Fußballstadion Mailands, wandelte sich vom Ort der Freude – Atalanta Bergamo gewann hier am 19. Februar 2020 4:1 gegen den favorisierten Club aus Valencia das Hinspiel des Championsleague-Viertelfinals – zum Ort der Ansteckung. Im Nachhinein wurde dieses Spiel als „Biologische Bombe“ bezeichnet und San Siro zum Schauplatz des „Spiel 0“ – in Anlehnung an den Patienten 0, den ersten Träger eines neuartigen Virus. Von hier aus, so die Theorie, verbreitet sich das Virus in Norditalien. Aber auch andere Orte haben binnen kurzer Zeit neue Bedeutungszuschreibungen erfahren: Das Karnevalszelt in Gangelt, im Kreis Heinsberg, wurde zum Ort von Deutschlands „Sitzung 0“, Kinderspielplätze wurden von Orten kindlicher Freude zu Durchseuchungsorten und der ÖPNV zu rollenden Infektionsherden (vor allem für diejenigen, die sich kein Auto leisten können). Wie viel wird davon bleiben? Welche Orte werden dauerhaft neue Zuschreibungen erfahren?

3. BIOMACHT UND DIE PANDEMIE
Regierungen weltweit reagieren entschlossen und mit ähnlichen Maßnahmen auf die Verbreitung des Virus, der Begriff Lockdown hat es in deutlich weniger als 80 Tagen um die Welt geschafft. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive bietet sich die Analyse unter Verwendung von Michel Foucaults Konzept der Bio-Macht an. Der Staat ordnet Räume neu, um Leben zu schützen, und wählt dafür drastische Maßnahmen: Er schränkt die Freiheitsrechte in einer Art und Weise ein, wie wir sie in den westlichen Demokratien seit Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr erlebt haben. In Foucaults Worten „diszipliniert“ er seine Bürger, um Leben zu erhalten. Er schützt seine Bürger auf seinem Territorium. Die bis vor kurzem in diesem Ausmaß nicht vorstellbaren Reisebeschränkungen sind der deutlichste Ausdruck der räumlichen Komponente dieser Biopolitik. Das räumliche Tracking von Infizierten mittels Mobilfunkdaten, in Deutschland vor kurzem noch undenkbar, wird heute selbstverständlich diskutiert. Für die Zukunft stellt sich die Frage, ob diese Biopolitiken die globalisierte Welt verändern werden? Zudem stellt sich die Frage, wie Staaten zukünftig räumliche Bewegungen noch stärker kontrollieren werden.

FAZIT
Die Corona-Krise verändert Geographien kurz-, mittel- und langfristig. Diese räumlichen Veränderungen kritisch zu hinterfragen, wird die Geographische Gesundheitsforschung in den nächsten Jahren herausfordern. Neben der Krankheitsökologie und der Gesundheitssystemforschung wird auch die postmedizinische Gesundheitsgeographie einen wichtigen Beitrag leisten.

Autor: Dr. Carsten Butsch, Universität Köln

(Erschienen im Newsletter 1-2020 des Arbeitskreises für Medizinische Geographie und Geographische Gesundheitsforschung – Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors)

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